Prof. Dr. med. habil. Karl-Ludwig Resch, Geschäftsführer Deutsches Institut für Gesundheitsforschung gGmbH Bad Elster, Vizepräsident des Verbands Deutscher Badeärzte e.V.
Der Kontext
Prädikatisierungsvoraussetzung Badearzt
Die Begriffsbestimmungen des Deutschen Heilbäderverbands legen als „Verbandsnorm“ die Eckpunkte vor allem der Strukturqualität in den deutschen Heilbädern und Kurorten fest. Sie ergänzen und konkretisieren damit die entsprechenden Kurortegesetze/-verordnungen der Bundesländer und nehmen so unmittelbar wesentlichen Einfluss auf die Kriterien, die die Grundlage für die staatliche Anerkennung („Prädikatisierung“) als Heilbad oder Kurort bilden.
Das Kapitel 1 (Grundlagen der medizinischen Kur…) fordert im Abschnitt B I (1) unmissverständlich „Die Ortsansässigkeit mindestens eines mit den örtlichen Kurmitteln und ihrer Anwendung vertrauten Kur- bzw. Badearztes, der eine sachgemäße und dem augenblicklichen Krankheitszustand der Kurgäste angepasste Kur überwacht, ist für die Dauer des Kuraufenthaltes zu gewährleisten“. Im Kapitel 3 (natürliche oder ortsspezifische Voraussetzungen für die Artbezeichnungen) findet sich dann im Abschnitt B (Hochprädikatisierte Orte) unter den obligaten Vorgaben für die einzelnen Artbezeichnungen stets auch der Satz „Niederlassung von mindestens einem kassenarztrechtlich zugelassenen Kur-/ Badearzt„.
„Geschäftsmodell“ Badearzt
Immer mehr Kurorte haben Schwierigkeiten, für Badeärzte, die in Ruhestand gehen, „Ersatz“ zu finden mit möglicherweise deletären Folgen für das kurörtliche Prädikat. Dabei sind die für das Prädikat Verantwortlichen, wenn nicht (was kaum der Fall ist) ein Arzt in einem gemeindeeigenen Unternehmen angestellt ist, darauf angewiesen, dass a) im Ort weiterhin eine Arztpraxis besteht und b) der dort Praktizierende „aus freien Stücken“ die finanziellen und zeitlichen Hürden zur Erlangung der Zusatzbezeichnung Kur- oder Badearzt auf sich nimmt. Und das „lohnt“ sich schlichtweg für so gut wie keinen Arzt mehr. Denn das einzige wirtschaftliche Privileg, das sich aus der Zusatzbezeichnung ergibt (und übrigens auch der einzige Grund, der eine „kassenarztrechtliche Zulassung“ erforderlich macht), ist die Möglichkeit, die ärztliche Leistung im Rahmen einer ambulanten Badekur nach §23 (2) SGB V abzurechnen.
Ambulante Badekuren werden aktuell in Deutschland pro Jahr etwa 50.000 abgerechnet, macht, legt man nur die Zahl der Mitglieder im Verband der Badeärzte zu Grunde (und nicht jeder Badearzt ist dort obligatorisch Mitglied) pro Badearzt etwa 70 Patienten im Jahr. In der Praxis sind aber für die meisten Badeärzte eher 10 bis 20 Patienten im Jahr Realität, da die Mehrzahl der genannten 50.000 ambulanten Badegäste einen der wenigen Kurorte wählt, in denen ambulante Badekuren (noch) modern und attraktiv angeboten werden (können).
Kein Badearzt, kein Kurort
Sollte sich in Zukunft (was hoffentlich nie eintreten wird), im SGB V ohne Ausgleich etwas Gravierendes zu Ungunsten des §23(2) in seiner heutigen Form ändern oder schlichtweg allgemein neue, gesetzlich verordnete Sparzwänge die Krankenkassen zu wohlfeilen „Bauernopfern“ nötigen, könnte das komplette System der prädikatisierten Kurorte in Deutschland wie einst die Dinosaurier nach dem Meteoriteneinschlag kurzerhand aussterben – mit fatalen Folgen nicht zuletzt für die bisher gerade im ländlichen Raum so tragende wirtschaftliche Säule der Heilbäder und Kurorte. Man stelle sich nur vor, es gäbe plötzlich keinen TÜV für Autos mehr….
Wie es scheint, wird die Bedeutung der Begriffsbestimmungen allenthalben massiv unterschätzt. Engagierte (ehrenamtliche) Mitglieder des Ausschusses für Begriffsbestimmungen des DHV mühen sich zwar nach Kräften, die Expertise erschöpft sich aber in technischer und (partiell) kurortmedizinischer Kompetenz, der Input und Dialog der Kurorte und ihrer Akteure fehlt hingegen weitestgehend, Veränderungen der wirtschaftlichen und gesundheitsökonomischen Rahmenbedingungen werden ebenso wenig systematisch und mit entsprechendem professionellen Hintergrund in die Überlegungen einbezogen wie medizinische Entwicklungen in Prävention, Kuration, Rehabilitation und dem Management chronischer Erkrankungen oder die Konsequenzen von Veränderungen in Bezug auf die eigenverantwortliche Beschäftigung mit der eigenen Gesundheit in der Bevölkerung.
Die Perspektiven
Begriffsbestimmungen
Eine grundlegende Anpassung der Begriffsbestimmungen an die Rahmenbedingungen und Perspektiven im 21. Jahrhundert ist ein entscheidender Schlüssel für die wirtschaftliche Entwicklung in den deutschen Heilbädern und Kurorten. Dabei gilt es nicht nur, ursprünglich so nicht intendierte „Gefahren“ zu erkennen und zu entschärfen, vielmehr und vor allem die Begriffsbestimmungen zu einem wirksamen, schlagkräftigen Instrument für ein besonderes Segment (das mögliche Premium-Segment) des Gesundheitstourismus und die nachhaltige Sicherung der Qualität fort zu entwickeln und auszubauen. Angesichts der Einzigartigkeit der kurörtlichen Infrastruktur in Europa ließe sich hier ggf. ein europaweiter Markt entwickeln und erschließen …
Medizinische Alleinstellung Kurort
Badeärzte wie Kurorte und ihre Akteure werden nur dann nachhaltig erfolgreich auf das „Geschäftsmodell Kurort“ aufbauen können, wenn es eine Perspektive gibt, wenn sich die kurörtliche Alleinstellung nicht auf Wandelhallen, Kurparks und die guten alten Zeiten beschränkt, sondern wenn es konkrete Optionen gibt, dass die kurörtliche Medizin auch künftig mindestens konkurrenzfähige gesundheitsfördernde Ansätze anbieten kann, am besten aber vornehmlich solche, die andere Therapieformen nicht bieten können.
Gottseidank scheint hier tatsächlich die Zeit, scheinen allgemeine Entwicklungen in der medizinischen Versorgung eher für die Kurorte zu arbeiten als gegen sie. Das Vergütungssystem in Deutschland baut elementar auf die Herausarbeitung einer konkreten Krankheitsproblematik auf, der dann unter Wahrung des Wirtschaftlichkeitsgebots Vergütungspauschalen zugeordnet sind (DRGs, diagnosis related groups). Die Schwächen dieses Systems werden allenthalben thematisiert, die Chancen, die sich daraus für Heilbäder und Kurorte ergeben, aber nicht. Dabei gibt es weltweit zahlreiche Untersuchungen, die zeigen, dass etwa jeder Dritte bis jeder Zweite durch diese Systematik keine Lösung für sein Problem bekommt. In Folge boomt der „2. Gesundheitsmarkt“: Menschen suchen zunehmend auch selbst nach Lösungen und ergreifen dabei, auch was die finanziellen Aspekte anbelangt, selbst die Initiative.
Genau dies beschreibt das „klassische“ Geschäftsmodell der deutschen Heilbäder und Kurorte und ihrer Medizin. Keiner der großen Kurorte ist durch Krankenscheine groß geworden, alle konnten (bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts) nur erfolgreich sein, wenn sie ein „spürbar wirksames“ und gleichzeitig hinreichend attraktives Angebot hatten.
Heute bildet dieser Markt in vielen Kurorten (wieder!) nicht nur das Kerngeschäft, sog. „Selbstzahler“ stehen für 80%, 90% und mehr des Gesamtumsatzes (wenn man die stationären Einrichtungen nicht mit berücksichtigt, die aber typischerweise gar keinen kurortmedizinischen Ansatz haben). Und das, obwohl die (kurort-)medizinische Kompetenz des Badearztes regelhaft außen vor bzw. mehr oder weniger zufälligen Einzelinitiativen besonders engagierter Akteure überlassen bleibt.
Weiterbildungsmodell Badearzt
Gerade für den immer weiter wachsenden 2. Gesundheitsmarkt sind perspektivisch auch aus kurortmedizinischer Sicht andere Badearzt-Kompetenzen erforderlich, die von den klassischen badeärztlichen Weiterbildungscurricula der letzten Jahrzehnte jedenfalls nur zum Teil abgedeckt wurden. Im Zentrum der Weiterbildung zum Badearzt stand und steht bislang das „Konzept regulationsmedizinische Reiz-Reaktion-Regulation-Adaptation“, wobei eine stabile Veränderung körpereigener Reaktionen Ziel des Aufenthaltes selbst war und ist. Darauf basiert übrigens essentiell die traditionelle Begründung für die Forderung nach einem mindestens dreiwöchigen, besser vier- bis sechswöchigen Aufenthalt am Kurort.
Demgegenüber liegt die Nachfrage im Markt privat bezahlter kurörtlicher Angebote größtenteils im Bereich weniger Tage bis etwa einer Woche (ggf. auch zwei Wochen), sodass auch kurortmedizinisch andere Strategien gefragt sind. Dazu zählt z.B. ein Paradigmenwechsel vom Primat der „stabilen Adaptation“ hin zur „Induktion von Adaptation“ aber auch zur Vermittlung von Kompetenzen und Fähigkeiten und der daraufhin abgestimmte therapeutische Einsatz des Milieuwechsels. Die Veränderung von einem traditionell paternalistischen zu einem partizipativem Ansatz sieht den Arzt am Kurort zunehmend häufiger in einer Rolle als Berater bzw. Gesundheitscoach. Umgekehrt erlauben technische Entwicklungen immer besser und einfacher die Begleitung und das Coaching von Kurgästen nach dem Ende ihres Aufenthalts.
Die markante Entwicklung eines durch Privatzahler definierten Nachfragemarkts führt zudem zu einer wachsenden Bedeutung von kurortmedizinischen Ansätzen, die weniger therapeutisch/kurativ, sondern vor allem präventivmedizinisch bzw. im Bereich der individuellen Gesundheitsförderung anzusiedeln sind. Hier entwickelt sich auch ein Marktsegment, in dem der Arzt vor allem als Garantor für Seriosität und kurortmedizinische Sinnhaftigkeit von Angeboten steht (was nicht unbedingt den konkreten physischen Kontakt mit jedem einzelnen Gast impliziert).)
Geschäftsmodell Badearzt
Die beschriebenen Veränderungen gilt es (über den „kassenärztlich“ erforderlichen Rahmen hinaus) in der derzeit laufenden Novellierung des Curriculums der Weiterbildung zum Badearzt zu berücksichtigen. Die auf dem Deutschen Ärztetag im Mai 2018 beschlossene Trennung der bisherigen Weiterbildung „Physikalische Therapie und Balneologie“ in die beiden, dann wieder unabhängigen Gebiete „Physikalische Therapie“ bzw. „Balneologie und medizinische Klimatologie“ schafft hier die Gelegenheit, aber auch den Raum, die Weiterbildungsinhalte zu „modernisieren“. Da die Weiterbildungszeit von bisher 240 Stunden künftig nur noch den bisherigen Kernbereich von 80 Stunden umfasst, sollten auch wieder mehr Ärzte am Kurort ein hinreichendes Eigeninteresse erkennen können, sich für den Erwerb der Zusatzbezeichnung zu entscheiden.
Das klare Bekenntnis der deutschen Ärzteschaft zur Telemedizin sollte auch dem Badearzt zugute kommen, dessen Aufwand sich dadurch in einigen Bereichen spürbar verringern könnte. Dies auch vor dem Hintergrund der in den Begriffsbestimmungen bislang noch nicht berücksichtigten „neuen“ Option für niedergelassene Ärzte, ihr Wirken nicht auf Räumlichkeiten einer einzigen Postadresse zu beschränken, sondern ggf. mehrere sog. „Filialpraxen“ mit begrenzten Öffnungszeiten auszuweiten.
Schließlich werden die Akteure am Kurort perspektivisch eine immer breitere Palette akademisch ausgebildeter „nichtärztlicher medizinischer Fachberufe“ einbeziehen können, deren Mitglieder eine „Lizenz zum Erstkontakt“ (also den „Patienten“-kontakt ohne obligatorische Einbeziehung eines Arztes bzw. Delegation durch einen Arzt) innehaben, etwa nach dem Beispiel der schon länger gerichtlich sanktionierten „sektoralen Heilpraktikerzulassung“ für Physiotherapeuten.
Vor dem Hintergrund, dass jetzt schon und perspektivisch wohl noch mehr für nicht wenige Gäste des Kurorts keine medizinisch als behandlungswürdig/-bedürftig eingestufte Erkrankung im Vordergrund steht, sondern vielmehr Erwartungen bezüglich einer positiven Beeinflussung des eigenen Wohlbefindens (und damit ein primär subjektiven Kriterien genügendes Bedürfnis) zentral buchungsrelevantes Kriterium sind bzw. sein werden, erscheinen auch unter dem Aspekt der Selbstbestimmung Entwicklungen in Richtung eines pluralistischeren Angebots gesundheitsbezogener Dienstleistungen nicht nur medizinisch vertretbar, sondern auch wirtschaftlich schlichtweg „alternativlos“.
Was ist zu tun
- Die fachlichen Inhalte des Weiterbildungscurriculums zur Erlangung der Zusatzbezeichnung Kurarzt-/Badearzt müssen medizinisch auf die perspektiven Bedarfe und kurortmedizinischen Alleinstellungen ausgerichtet werden. Die Lernziele und Inhalte des Weiterbildungscurriculums zur Erlangung der Zusatzbezeichnung Kurarzt-/Badearzt müssen so weiter entwickelt werden, dass nicht zuletzt Menschen, die ihre Gesundheit zur eigenen Sache machen, am Kurort „funktionierende“ und gleichzeitig attraktive Angebote vorfinden. Und dass Badeärzte wie auch andere Akteure des Kurortes einen hinreichenden Nutzen für sich verbuchen können.
- Eine grundlegende Überarbeitung der Begriffsbestimmungen unter kompetenter Würdigung der allgemeinen medizinischen Entwicklungen, der Besonderheiten und Möglichkeiten des spezifischen kurortmedizinischen Ansatzes sowie der gesundheitspolitischen, gesellschaftlichen und gesundheitstouristischen Perspektiven unter adäquater Einbeziehung der wirtschaftlich maßgeblichen Akteursgruppen am Kurort ist das unverzichtbare Rückgrat für eine nachhaltig positive Entwicklung und Profilierung eines künftigen Marktsegments kurörtlicher Gesundheitstourismus. Dazu sind erhebliche, systematische Anstrengungen seitens des DHV und die direkte Einbeziehung aller an einer solchen wirtschaftlichen Zukunft interessierten Kurorte unabdingbar.